Zu Fuß nach Rom. A piedi a Roma

Impressionen einer Wander- und Pilgerreise
von Hans-Joachim Abele

Gehen als etwas Elementares erleben, Gehen als bewusste Wahrnehmung von Körper, Geist und Seele erfahren, Gehen als die dem Menschen angemessenste Art erkennen, sich neue Räume zu erschließen – dies alles im großen Stil zu erfahren, war mir in den Jahren 2006 bis 2010 vergönnt, als ich in Etappen zu verschiedenen Jahreszeiten nach Rom wanderte und dabei mannigfaltige Eindrücke sammeln durfte, die mich tief im Bewusstsein prägten.

… und plötzlich war alles anders: Eine Idee wird geboren
Erst wenn etwas nicht mehr funktioniert, wird einem der Wert des Verlorengegangenen sichtbar und bewusst. Jahrzehntelang machte ich mir keine Gedanken über mein Unterwegsein draußen, sei es bei der Arbeit im Garten, bei Wanderungen auf der Ostalb oder beim Bergsteigen in den Alpen … und plötzlich war alles anders: Ein Bandscheibenvorfall ließ mich untätig zurück. Als ich dann Monate später einigermaßen schmerzfrei wieder am Gipfelkreuz des Hohen Fels bei Bargau stand, verspürte ich eine Dankbarkeit demgegenüber, wieder gehen zu können. Die Idee, eine Fernwanderreise zu unternehmen, entstand dann noch einmal ca. ein Jahr später: Beim Anblick des Sonnenuntergangs neben dem Rechberg waren meine Gedanken einmal mehr bei einem lieben Kollegen und guten Freund, der auf dem Jakobsweg nach Spanien wandern wollte, was ihm aber aufgrund einer schweren Erkrankung dann nicht mehr möglich war. An jener Stelle zwischen Bargau und Bettringen war sozusagen die Geburtsstunde der Idee meiner Wanderreise, die schnell zur Pilgerreise wurde. Dass das Ziel nicht Santiago de Compostela sondern Rom hieß, ist meinen persönlichen Vorlieben geschuldet.

Auch der weiteste Weg beginnt mit dem ersten Schritt, hier vor deinen Füßen.(Chuang Tse)

Losgehen bedeutet auch Loslassen
Jedes Losgehen bedeutet auch ein Loslassen. Wie oft habe ich dies schon bei ein- oder mehrtägigen Bergfahrten, bei Studien- oder auch Urlaubsfahrten erfahren. Immer war das Losgehen gleichbedeutend mit einem Zurücklassen. Gegenstände, die nicht mehr in den Rucksack oder Koffer passten, mussten genauso zurückgelassen werden wie alltäglich lieb gewordene Gewohnheiten. Das Abschiednehmen vor der Wanderreise war noch einmal eine Spur intensiver. Der Hintergrund dafür liegt sicherlich in dem Bewusstsein, das Ziel (noch) nicht genau zu kennen. Was erwartet mich? Wie weit komme ich? Wie ergeht es mir dabei?
Wie schwer mir das Loslassen gefallen ist, spiegelt sich in der Tatsache wider, dass ich am ersten Tag meiner Reise vom Nordrandweg der Schwäbischen Ostalb aus immer wieder den Blick zurück zu meiner Heimat suchte.

Wenn Alltägliches zum Wunderbaren wird

Bereits am zweiten Tag hieß es durchzuhalten, dem ständigen Regen zu trotzen. Aufkommende Überlegungen, das Unternehmen abzubrechen, wurden schnell verworfen, war ich doch fasziniert von den Stimmungen, die das schlechte Wetter bot. Fast mystisch anmutend gestaltete sich der Gang über die Wacholderheide der Schwäbischen Alb, Regentropfen klammerten sich Perlen gleich an jeden noch so dünnen Halm und verliehen so dem Getreidefeld einen Zauber. Jegliche naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle gerieten in den Hintergrund. Ich war einfach nur fasziniert vom Alltäglichen, das sich als etwas Wunderbares darbot.

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe?
Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde geschaffen hat.
(Ps. 121)

Sich als Teil des großen Ganzen begreifen
Der Gang über die Alpen, vom Bodensee über das Alpsteingebirge und die Via Spluga bis hin zum Lago di Como, stand sicherlich im Zeichen eines bei mir fünf Monate zuvor operierten Aorten-Aneurysma. Mit der Entdeckung der Langsamkeit, den Puls unter 120 Schlägen pro Minute haltend, fand ich den eigentlich dem Menschen angemessensten Rhythmus, sich neue Räume zu erschließen. Ja, mehr noch: Eine Überquerung der Alpen ist nicht nur eine Wanderung, es ist vielmehr das Suchen und Finden von Antworten auf die elementare Sinnfrage des Lebens. „Ich lebe!“ Nirgendwo anders ist diese Erfahrung so intensiv wie im Gebirge: das Leben spendende Licht und die Wärme der Sonne, das klare, erfrischende Wasser, die farbenfrohen Blüten, deren Anblick der Seele gut tut. Spätestens beim Trinken des frischen Quellwassers begreift man sich als Teil des großen Ganzen, als Teil der Schöpfung.

Das Ziel unseres Weges durchs Gebirge ist zweifellos
das Ankommen! – Wo aber ankommen?

 Begegnungen

Immer wieder fand ich mich in Situationen, aus denen ich alleine nicht mehr weiterwusste. Wie selbstverständlich waren da mir fremde Personen, die ganz selbstlos ihre Hilfe anboten und mir so ein Weiterkommen ermöglichten. Sei es gleich am zweiten Tag bei der Ankunft am Landgasthof in Heroldstatt-Sontheim, wo ich in der Wohngemeinschaft des Küchenpersonals zu einer Übernachtungsmöglichkeit kam, oder wie selbstverständlich zum gemeinsamen Abendessen der Dorfgemeinschaft im Ristorante Val Verde nahe Mandello eingeladen wurde, oder als mir „Angelina“ mit einem belegten Brötchen und einer kleinen Flasche Mineralwasser auf dem Po-Damm weiterhalf, oder wie der Pfarrer in Costamezzana mir half, mein „Hochbett“ auf der Tischtennisplatte einzurichten, oder … die vielen zufälligen Begegnungen unterwegs, in Gaststätten, in Bars und vor allem in den Klöstern. Immer und überall stieß ich stets auf menschliche Wärme und Herzlichkeit.

Vom Werden und Vergehen
Das Unterwegsein zu verschiedenen Jahreszeiten machte meine Wanderreise vollkommen, konnte ich doch so die Natur in all ihren Facetten erleben: vom Keimen über das Aufblühen und  die Früchte ausbilden bis hin zur Reife und dem Laubfall. Der spätherbstliche Gang über den Apennin, von Fidenza über den Cisa-Pass nach Massa am Ligurischen Meer, war dabei sicherlich eines der intensivsten Erlebnisse. Waren die ersten Tage dieser letzten Oktoberwoche herrliche Herbsttage mit leuchtendem Bunt der Weinreben und Wälder, so wurde ich auf der Südseite des Apennin von einem riesigen Tief erfasst. Sintflutartiger Regen war mein Begleiter, vorbei das strahlende Bunt, vorbei das blühende Leben. Die Natur nimmt sich die notwendige Ruhe, um im nächsten Jahr wieder neu erblühen zu können. In der Natur beobachten wir den ständigen Kreislauf vom Werden und Vergehen. Und wir Menschen? Sind wir nicht genauso diesem Kreislauf unterworfen? Verspüren wir nicht auch jedes Jahr nach den langen Wintermonaten neue Kraft zum Leben? Geprägt von dieser Dialektik vom Werden und Vergehen, von Leben und Tod, bin ich in dieser Woche unterwegs gewesen. Und die Einordnung meines Lebens in diesen endlichen irdischen Kreislauf war genauso präsent wie die Erinnerung an liebe Menschen, die gestorben sind.

Aller Tod in der Natur ist Geburt,
und gerade im Sterben erscheint sichtbar
die Erhöhung des Lebens.
(Johann Gottlieb Fichte)

Entlang toskanischer Perlen
Ein halbes Jahr später sollte ich das aufblühende Leben in der Toskana erfahren. Der morbide Charme der Häuser wurde durch Blumen an Fenstern und Hauseingängen verstärkt, in den Gassen und Straßen der Dörfer und Städte pulsierte das Leben bis spätabends, oft bis in die Nacht hinein. Dann der Austritt aus den Siedlungen: umgeben von Olivenhainen und Weinbergen, dazwischen immer wieder Bauernhöfe, Edeldisteln und Pflanzen mit Früchten und Blüten in den unterschiedlichsten Farben säumen den Weg, locken viele Schmetterlinge an. Es war einfach traumhaft! Dann der Blick in die Weite: eine Hügelkette, noch eine und noch eine … fünf, sechs, sieben Hügelketten verlieren sich im Dunst. Einer Perle gleich ist die Toskana eingebettet in „das schöne Land“, welches Dante und Petrarca mit „il bel paese“ schon im Mittelalter beschrieben.

Ankommen – Weitergehen
Ein komisches Gefühl begleitete mich auf der letzten Etappe vom Bolsenasee nach Rom. War es das Bewusstsein, dass ich nun bald in Rom ankommen werde, diese mir längst schon zum Lebensinhalt gewordene Reise bald ein Ende finden wird? War es die vorösterliche Zeit der Karwoche, die vor allem in den Klöstern gelebt wurde? Waren es Bilder von einem Kinderheim in Tansania, die ich im Rahmen eines Besinnungstags kurz vorher gesehen hatte und nun mit mir herumtrug? Kinder, die aufgrund einer Malariainfektion gliedmaßenamputiert sind und nur den einen Wunsch haben, aufrecht gehen zu können! – Was auch immer: Ich war heilfroh, als es am letzten Tag dämmerte, ich bald die Türe des Konvents ins Schloss fallen lassen und über die „Via Trionfale“ in die „Ewige Stadt“ einziehen konnte.

Ich bin da – in diesem Raum, auf diesem Platz,
in meinem Leib, in meinem Atem.
Ich bin da vor Gott. Ihm überlasse ich,
was mich bedrückt, was mich freut.
Ich danke für den Tag, für den Weg,
für die Erfahrungen, mit mir,
mit anderen, mit Gott.
(Peter Müller)¹

Ja, mein Weg „Zu Fuß nach Rom – A piedi a Roma“ hat ein Ende gefunden. Ich bin angekommen. Doch wie alle anderen Orte, an denen ich war, so ist auch Rom nur eine „Zwischenstation“. Ich werde weitergehen, auf neuen Wegen und zu neuen Zielen. Ich werde weitergehen, um neu aufzutanken und das Staunen immer wieder aufs Neue zu erleben.

Verfasser©: Hans-Joachim Abele, Fotos©: Hans-Joachim Abele
¹) Peter Müller „Die Seele laufen lassen“, S 162, München 2008, mit freundlicher Genehmigung des Autors